Die Augen des Malers sehen die Welt und die Dinge des Lebens ähnlich wie der Poet....
Die Augen des Malers sehen die Welt und die Dinge des Lebens ähnlich wie der Poet....

Geschichten

 

Zum Gedenken an Großmutter

 

 

Unser Haus liegt an der Ostsee, ein paar Meter vom Strand entfernt, also mit Seeblick. Erbaut von unserem Urgroßvater. Durch die kleine Steilküste steht das Haus am Hang hoch genug, um vor dem winterlichen Hochwasser geschützt zu sein. Wenn die Touristen verschwunden sind, der Spätherbst die Spitzen der Gräser braun färbt und die Früchte der Wildrosen in den Dünen im Dunkeln rot leuchten, hört man nur noch das Rauschen der Wellen am Strand und die klagenden Schreie der Möwen. Von Ferne sieht man noch schemenhaft die Umrisse großer Fährschiffe am Horizont in Richtung Dänemark vorbeiziehen. Der kalte Dunstschleier, der jetzt meist über der Ostsee liegt, läutet für mich die stille Advents- und Weihnachtszeit sein. Es gibt keinen Ort, an dem ich jetzt lieber sein möchte.

 

 

Wir sind eine ganz normale Familie, mit Arbeit, Schule, Wochenenden, Streit um  Ausgehzeiten, auch andere Zeiten usw.! Die täglichen Dinge des Lebens sind gut organisiert, für fast alles ist gesorgt. Bis auf den Umstand, dass man in diesem Hause kaum eine ruhige Minute für sich hat, z.B. zum Nachdenken oder um einmal in Ruhe allein zu sein! Meine Familie besteht aus Vater und Mutter, Großvater, meiner kleinen Schwester Clara, (Clara mit C, wie unsere verstorbene Urgroßmutter) und mir. Ich heiße Jessika. Außerdem noch unsere Haushälterin Anna, die eine Perle ist, wie meine Mutter zu sagen pflegt. Dann ist da noch unser Kleiner.

 

 

Unser Kleiner ist eine Promenadenmischung aus Husky und anderen zotteligen Wesen. Clara und Großvater hatten den Hund eines Tages bei einem ihrer täglichen Spaziergänge entdeckt. Der kleine arme Hund war völlig abgemagert, durchnässt und auch sonst in einem erbärmlichen Zustand. Touristen, die im Sommer unseren Strand besetzen, haben das Tier sicherlich einfach ausgesetzt. Meine Eltern wollten sich gerne einen Rassehund anschaffen, der aufpasst, dass sich „bösen Buben“ dem Haus nähern. Aber Clara, die den kleinen Hund behalten wollte, kann man eben nichts abschlagen. Der Name „Kleiner“ rührt daher, dass wir uns nicht auf einen passenden Namen einigen konnten. Dann war es bald zu spät, weil der Hund sich nicht an einen anderen Namen gewöhnen wollte. Inzwischen ist Kleiner so groß wie Clara, jedoch als Wachhund völlig ungeeignet. Kommen Besucher, legt er treuherzig seinen Kopf mit dem weißen weichen Fell auf deren Knie und schaut den Besucher so an, dass dieser ihn automatisch zu streicheln beginnt. Wobei ich zugeben muss, dass - wenn Clara und Kleiner im Wohnzimmer nach einer Balgerei auf dem Teppich zusammen schlummern, die eine Pfote des Hundes zärtlich um Claras Hals geschlungen - es ein Bild abgibt, bei dem Romantiker feuchte Augen bekommen könnten.

 

Meine Schwester Clara ist ein ungeplanter Nachkömmling. Nicht, dass ich meine Schwester nicht liebe. Natürlich liebe ich sie, wie sie von allen geliebt wird. Ein blonder Engel, der den ganzen Tag singt und lacht und wenn sie einen Raum betritt, verändert sich dieser. Clara erscheint - präsent und dominant, wie ein Wirbelwind. Mit ihren blauen Augen, die mir fast ein wenig zu blau erscheinen, aber das wächst sich sicher noch aus - ist sie unwiderstehlich, im positivsten Sinn. Ich glaube, dass der liebe Gott Überstunden bei Ihr gemacht hat. Sicherheitshalber hat er noch einmal alles überprüft, und hier und da, persönlich Hand angelegt, um ihr den letzten Schliff zu geben. Das Ergebnis ist umwerfend!

 

Es ist aber nun mal so, dass bevor Clara geboren wurde, ich uneingeschränkt die Nummer Eins war. Nicht dass es mir viel ausmacht, heute die Nummer Zwei zu sein, aber ich möchte dies mal erwähnen dürfen. Mein Äußeres ist eher durchschnittlich, obwohl meine Eltern sagen, ich wäre die Schönste im Ort. Aber das sagen Eltern immer zu ihren Töchtern! Für meine Größe ich bin etwas zu dünn geraten, habe kaum Busen, dafür aber zu lange Beine. Meine Haare trage ich kurz, fast wie ein Junge, denn lange Haare sind mir lästig. Trotzdem - für mich unverständlich - sind viele Jungens aus meiner Klasse hinter mir her. Doch mit meiner gefürchteten scharfen Zunge kann ich sie mir gut vom Leibe halten. Ich gehöre zu den Hochbegabten, so heißt das wohl. Zwei Klassen konnte ich überspringen. Als mir trotzdem zu langweilig wurde, haben meine Eltern mich in eine Schule für Hochbegabte gesteckt. Ich glaube allerdings eher, dass ich einfach nur sehr gerne lerne. Meine Neugier ist unersättlich. Da ich nicht ins Internat wollte, auch wegen meines Großvaters, fahre ich jeden Tag 70 km mit Bus und Bahn. Ich werde im übernächsten Jahr nach dem Abitur Physik und Mathematik studieren, wie mein Opa. Mein Notendurchschnitt ist so gut, dass es mir peinlich ist, darüber ein Wort zu verlieren. Meine Eltern sind sehr erfolgreich. Wen sollte es wundern. Vater ist Anwalt und meine Mutter Staatsanwältin. Diese Konstellation ist Sprengstoff und beinhaltet einen Interessenkonflikt mit emotionaler, sehr breit gestreuter Kommunikation. Vorsichtig ausgedrückt! Allerdings, wenn Wochenende ist, also Familientag, wird ganz bewusst nicht über Gut und Böse diskutiert.

 

Opa sitzt jetzt meistens am Fenster, im großen Wohnzimmer mit dem Erker, der ganz aus Glas besteht und schaut auf die Ostsee! Seit Oma vor einem Jahr gestorben ist, das war zwischen Weihnachten und Neujahr, ist er schweigsam geworden, versucht aber, seine Trauer zu verbergen, so oft es geht. Wenn man ihn anspricht und er wieder sehr in seine Gedanken versunken vor sich hinschaut, sagt er immer: “Ich rede gerade mit Oma!“ Meine Eltern schauen sich dann vielsagend an, so als wenn Opa plemplem wäre. Großvater ist alles andere als verwirrt. Im Gegenteil. Er ist nach wie vor sehr klug und humorvoll, will aber öfters nur in Ruhe seinen Erinnerungen nach hängen. Die einzige, die Ihn da herausholen kann, ist Clara. Wenn Clara Opa am Ärmel zieht und sagt: „Opi komm, lass uns am Strand spazieren gehen“, kann Opa nicht widerstehen. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Großvater kann viele Geschichten aus seinen bewegten Leben erzählen. Er spricht auch gerne von seiner Studentenzeit. Um Geld für sein Studium zu verdienen, arbeitete er als Clown oder als Gaukler, trat bei Veranstaltungen in den Fußgängerzonen der großen Städte auf, oder im Sommer, wenn die Touristen kamen, am Strand der Ostsee, und erfreute die Kinder mit seinem Charme und seinen Stimmenimitationen.

 

 

 

 

Nach dem Studium war er erst in der Wirtschaft tätig, bekam aber später eine Professur an der Uni. Mit Oma segelte er im Sommer wochenlang durch die Weltmeere. Er war ein sehr guter Segler und hat sogar einige Preise gewonnen. Omas Tod war für alle ein großer Schock. Wir vermissen sie sehr. Dabei schien sie in den letzten Jahren kaum zu altern, obwohl sie inzwischen 86 Jahre alt geworden war. Am Morgen des 28. Dezember wachte sie einfach nicht mehr auf. Ihr Gesicht sah so friedlich aus und es schien, als würde sie lächeln. Oma war Ärztin. Sie wendete bei Ihren Patienten oft die fernöstliche Heilkunst an. Auch dem Metaphysischen war sie nicht abgeneigt. Oma konnte sehr tief in die Menschenseele hineinschauen. Wenn ich einmal ein Problem hatte und verzweifelt war, schaute sie mich nur an, so wie man durch jemanden hindurchblickt. Dann sagte sie noch irgendetwas und es dauerte nicht lange, da betrachtete ich das Problem mit anderen Augen. Immer noch sehe ich sie in meinen Gedanken, wie sie am Wasser barfuß spazieren geht, völlig mit sich im Einklang. In ihrer weißen, dünnen Leinenhose und dem schwingendem Gang sah sie von weiten aus wie ein junges Mädchen. Sie ging jeden Morgen vor dem Frühstück ans Wasser, manchmal auch Hand in Hand mit Opa. Die beiden müssen sich sehr geliebt haben.

 

 

Lässt meine Zeit es zu, sitze ich bei Großvater und wir reden über die Physik im Großen und im Kleinen. Er sagte einmal zu mir, dass die größten Physiker um 1900 meinten, Physik bräuchte man nicht mehr studieren, weil bald alle Geheimnisse der Materie gelöst seien. Heute weiß man nach über 100 Jahren, dass, umso tiefer man in diese hineinschaut, immer mehr Geheimnisse entstehen.

 

 

So philosophieren wir manchmal stundenlang über das Universum und deren kleinsten Bausteine. Ohne Clara hätte sich unser Großvater sicher noch stärker in sich zurückgezogen. Sie ist sein Sonnenschein. Clara scheint trotz ihrer jungen Jahre zu spüren, wie wichtig sie für ihn ist.

 

Gestern, am Heiligen Abend, beschäftigte mein Vater sich wortkarg mit dem Schmücken des Tannenbaums. Meine Mutter bereitete das Abendessen vor. Auch ich hatte irgendetwas zu tun. Clara saß mit ihrem Hund still in einer Ecke und schaute in ein Bilderbuch. Wahrscheinlich empfand auch sie die gedrückte Stimmung, so wie wir alle. Opa saß wieder am Fenster in seine Gedanken versunken und schaute in die Ferne.

 

Wie jedes Jahr gingen wir am Heiligabend nachmittags in die Kirche. Alle, bis auf Clara, hatten wir Angst davor, in der Kirche zu sitzen und an Oma zu denken. Als es Zeit wurde, zogen wir uns langsam an und trotteten los. Wenn wir ins Dorf wollen, gehen wir erst ein Stück am Strand entlang. Später kommt man links am Leuchtturm vorbei durch die Dünen und dann bald zu unserer kleinen Kirche, die mitten im Dorf steht. Es war ungewöhnlich mild für die Jahreszeit. Opa ging mit Clara voran, gekleidet in seinen langen Lodenmantel, der ihm bis zu den Fußknöcheln reichte. In den letzten Jahren ist Großvater sicher kleiner geworden. Aber er weigert sich beharrlich einen neuen Mantel zu kaufen, mit der Begründung, dass es so ein schönes warmes Kleidungsstück gar nicht mehr zu kaufen gibt. Opa hat lange weiße Haare, die ihm bis auf den Mantelkragen reichen. Wie ein Professor eben. Es sieht so aus, als hätte er einen weißen Schal um seinen Hals gebunden.

 

 

 

Wir waren etwa 10 Minuten unterwegs. Der Wind hatte ganz aufgehört zu wehen. Die Ostsee lag still und blank in ihrem Bett. Das Wasser zeigte nur winzige Wellenbewegungen. Ein leichtes Auf und Ab. Dazu lag eine dunstige Nebelstimmung auf dem Wasser. Am Himmel zeigte sich an den Wolkenrändern eine intensive rot gelbe Färbung. Durch die kleinen Kieferngehölze, die oben auf dem Hang standen, tanzten, glitzernd und blinkend die letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne. Auf einem alten Baumstamm saß eine Silbermöwe. Sie blieb auch dann noch an ihrem Platz sitzen, als wir schon ganz nahe waren. Ich dachte schon, sie hätte sich eine Verletzung zugezogen. Als wir noch näher kamen, konnten wir einen Ring an ihrem Fuß sehen. Sie schaute uns eine Weile an, schwang sich dann in die Höhe und zeigte uns ihre Flugkünste. Im Hintergrund die Silhouetten der Wolken, die sich in schnell wechselnden Formen veränderten. Wir blieben alle stehen und schauten fasziniert zum Himmel. Die Möwe flog noch ein paar Loopings, als wolle sie etwas am Himmel schreiben. Opa schwankte etwas, sodass ich ihn stützen musste. Dabei sah ich in seine Augen, wie sie glänzender wurden und eine Träne rollte über seine Wangen. Für einen Moment spürte ich meine Umgebung wie in Zeitlupe. Eine Wolkenformation erschien mir wie eine winkende Hand, die sich schnell wieder auflöste. Die Möwe flog weiter nach oben, bis sie nicht mehr zu sehen war. Meine Eltern bekamen von all dem gar nichts mit. Sie bemerkten auch nicht den Mann, der an uns vorüber ging. Er war seltsam gekleidet. Wie aus einer anderen Zeit. Sein Blick pulste mir durch alle Glieder. Dann schaute er zu Clara, die ihre kleine Hand noch immer fest an die von Opa klammerte. Für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, als wenn Claras Lockenkopf noch heller als sonst leuchtete. Kleiner heulte kurz auf, zog aber dann seinen Schwanz ein und versteckte sich so gut es ging hinter Clara. Es dauerte eine Weile bis ich wieder normal denken konnte, aber da war der fremde Mann längst in den Dünen verschwunden.

 

Nach dem Gottesdienst war unsere Stimmung eine völlig andere. Wir freuten uns richtig auf Heiligabend und unser gemütliches Zuhause unterm Tannenbaum. Nach dem Essen als die Geschenke verteilt waren, saßen wir noch lange am Kamin. Unser Großvater der besonders guter Dinge war, las uns eine lange Weihnachtsgeschichte vor. Clara lag völlig erschöpft mit ihrem Hund schlafend auf dem Teppich und meine Eltern kuschelten sich auf der Couch eng aneinander und hörten andächtig zu.

 

 Mit meinen 15 Jahren habe ich noch viel Zeit, meine Einstellung zur Realität zu überdenken. Es gibt sicher an der Grenze des Materiellen etwas, das nicht durch eine Formel zu beschreiben ist. Jedenfalls werde ich in meinem zukünftigen Beruf als Physikerin nie vergessen, welche Botschaft ich an diesem Heiligenabend erfahren habe. Opa geht es seit Heiligabend wieder ausgezeichnet. Er hat seinen Humor wiedergefunden und ist ausgesprochen gesprächig. Clara und er necken und üben sich weiter darin, wer von ihnen beiden wohl den besten Spaß machen kann.

 

 

Text: Uwe Schmalstieg

 

Galerie Südliches Friesland

 

 

 

Am Ufer des Sees

 

 

Der schmale Pfad am Ufer des Sees war fast zugewachsen vom Schilf und den schattigen Weiden, die dicht am Wasser standen und ihre Zweige wie ein Zelt über den Uferrand ausstreckten. Im Spätsommer lagen die Wurzeln der Bäume zum Teil frei und die Unterspülungen wurden sichtbar. An solchen Plätzen gelang es manchmal, einen Fisch zu fangen. Auf dem Bauch liegend, mit einer Hand im Wasser, langsam tastend, um dann im richtigen Moment zuzupacken.

 

 

Mich ergreift eine tiefe Sehnsucht, wenn ich an diese Zeit denke. Alles erschien einfach und leicht. Wir Kinder spielten entweder am Wasser oder tobten im Wald, der direkt hinter unserem kleinen Dorf lag. Verboten, und daher besonders spannend und unwiderstehlich, waren die Erkundungen im nahen Moor, das heute nur noch zu betreten ist auf vorgeschriebenen, befestigten Wegen. Die tiefen Morastlöcher zwischen den hohen Gräsern konnte man nur schwer erkennen. Sie warteten nur darauf uns zu verschlingen. Erinnerungen an den modrigen Geruch des Moores, dunkelbraune erdige Farbtöne und bizarre Strukturen und Vertiefungen, die durch dass Torfstechen entstanden sind, lassen bei mir auch heute noch Stimmungen und Bilder entstehen.

 

 

Am Wasser oder in der weiten, flachen Landschaft gibt es für mich einen magischen Augenblick: Es ist die kurze Zeit, wenn die Nacht den Tag ablöst, in den wenigen Sekunden, wenn die Sonne ihre allerletzten Strahlen sendet.

 

 

Wenn die Natur scheinbar den Atem anhält, als ob man nicht hören soll, was der Tag der Nacht zu erzählen hat und es so aussieht, als ob am Horizont Himmel und Erde sich vereinen. Dieser Moment des Mystischen hat für mich nie an Faszination verloren.

 

 

Für den Jungen wurde es Zeit für den Heimweg. Die Freunde waren schon alle gegangen, die Schatten vom anderen Ufer wurden bereits sehr lang und der Abend legte einige Dunstschleier auf das Wasser. Die Geräusche des Tages waren verstummt, nur die Blätter der Weiden flüsterten und summten noch ihr Lied, bis der letzte Windhauch auch sie zum Schweigen brachte. Ein Wildentenpaar zog ihre Bahnen über das spiegelglatte Wasser, so gerade wie an einer Schnur gezogen. Vor dem gegenüberliegenden Ufer saß ein Angler regungslos im Boot in einer typischen, beschaulichen Silhouette. Der türkisfarbige Himmel mit den wenigen Wolken, deren Ränder in einem gelbroten Licht strahlten, hätte auch ein Bild, geschaffen von einem Maler aus der Zeit der Romantik sein können.

 

 

Auf dem weichen halbnassen Sand konnte der Junge gut laufen, die Sandalen in der einen, die Spielutensilien in der anderen Hand. Seine dünnen Beine waren braun gebrannt von der Sonne und die flinken Laufbewegungen zeigten die Sorglosigkeit und Unbeschwertheit dieses Tages.

Der Weg wurde unterbrochen von einer Badestelle, an der man, ohne sich am oft steinigen Untergrund die Füße zu verletzen, ins Wasser gehen konnte.

Vorn am Ufer stand ein Mann mittleren Alters, seine Körperhaltung spiegelte eine konzentrierte Versenkung in Gedanken wider. Die männlichen Gesichtszüge mit der hohen Stirn und den tiefgründigen blauen Augen, gaben dem Mann ein markantes Aussehen. Die Schläfen zierte ein leichtes Grau. Der feine dunkle Anzug und das weiße Hemd mit der samtigen Krawatte wollten aber so gar nicht in diese Umgebung passen.

„Schau“, sagte er, ohne sich umzudrehen - „dort auf dem Wasser!“ Der Junge blieb stehen und folgte dem Zeigefinger des Mannes. Wenige Meter seitlich am Schilfgürtel, dort wo ein paar Seerosen große Blätter auf das Wasser gelegt hatten, tanzte eine Libelle im letzten Abendlicht. Die blau-silbrigen Flügel funkelten und blitzten in einer eleganten Flugbewegung.

Nach kurzer Zeit landete sie auf einem der Seerosenblätter und hielt inne. Mit einem Male änderten sich die Farben der Umgebung. Im Bereich der Seerose leuchtete es in intensiven Farben hell auf . Er sah, wie im Fokus einer Lupe, die Ränder auseinander gezogen, unscharf und zerrissen. Im Mittelpunkt ein elfenhafte Wesen, kristallklar- so zart und durchsichtig und voller Anmut, dass er meinte, er befände sich in einem Traum. Sie winkte ihm zu, tanzte mit einer schwebenden Leichtigkeit wie im Ballett, und schaute dabei die ganze Zeit zu ihm hinüber.

Der Anblick versetzte ihn in einen Zustand von tiefem Glücksgefühl und ehrfürchtigem Staunen. „Man nimmt wahr, was man denkt und fühlt“, hörte er den Mann noch mit sonorer Stimme sagen.

Nach ein paar Minuten, als die Sonne ganz untergegangen war, löste sich das Gesehene auf. Dem Jungen klopfte das Herz bis zum Hals, wie in Trance verweilte sein Blick noch eine Weile auf dem Seerosenblatt. Als er sich umdrehte, war auch der Mann verschwunden.

 

An diesem Abend, der Junge sagte kein Wort zu seinen Eltern und Geschwistern was ihm widerfahren war, und in der Nacht als alles schlief, stand er noch einmal auf und ging zum Fenster. - Der Mond leuchtete durch den großen Apfelbaum. Es sah aus, als ob eine Laterne im Baum hing. Die knorrigen, alten Äste die symbolisch in die Ferne zeigten, wollten ihm vielleicht deutlich machen, dass es jenseits allem Wissen - Dinge gibt, die jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis widersprechen.

 

 

An diesem Tag hatte der Junge etwas erlebt, was sich nur schwer mit Worten beschreiben lässt. Seine Seele hatte eine Grenze zu einer bisher unbekannten Welt durchbrochen. Auch nach Jahren, als die kindlichen Träume mit der Realität wechselten, wurde das Erfahrene wie ein Schatz gehütet, in dem Bewusstsein, dass es eine Wirklichkeit gibt, die weit entfernt ist, von dem, was unser Verstand begreifen kann.

 

 

Uwe Schmalstieg

 

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